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73. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 316, K07, IV

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Mit dem „Verbot der Justizverweigerung“ bürden sich Gerichte auf, jeden Fall zu entscheiden. Zugleich ermöglicht ihnen dieser Zwang jedoch die Freiheit, selbst Regeln zu entwickeln, wie man trotz Unentscheidbarkeit entscheiden kann. Durch diese Regeln schaffen sie allerdings selbst Recht. Das so entstehende „Richterrecht“ beruht also auf der Paradoxie, dass die Rechtsprechung erstmal Recht schaffen muss, um Recht sprechen zu können. In dem Justizverweigerungsverbot sieht Luhmann denn auch den „Ausgangspunkt für die Konstruktion eines juristischen Universums“. Eine Art Startrampe für das Rechtsdenken und die juristische Argumentation der Moderne. Durch ihre Selbstbindung an den Entscheidungszwang erlauben sich Gerichten selbst, immer dann, wenn kein Recht „gefunden“ werden kann, es eben selbst zu „erfinden“. Im Kern ist das eine Paradoxie: Die Rechtsprechung schafft Recht, um Recht zu sprechen. Dies geschieht denn auch nur „mit linker Hand“. Es ist nicht ihre Hauptaufgabe. Die Entwicklung von Regeln läuft nebenbei mit. Diese Paradoxie hat jedoch Auswirkungen auf das gesamte Rechtssystem. Sie ist der Grund, warum die juristische Argumentation so stark auf mögliche Zukunftsfolgen von Entscheidungen abstellt – obwohl man die Zukunft niemals kennen kann. Die sorgfältige Einschätzung dient als Ausweg, um die Paradoxie zu invisibilisieren, dass trotz Unentscheidbarkeit entschieden wird. Man verzeitlicht. Das Justizverweigerungsverbot ist nicht nur eine Norm, sondern eine autologische Vorschrift: Sie beschreibt sich selbst und sie bezieht sich auf sich selbst (ist also selbstreferentiell). Zu den Auswirkungen zählt, dass man die selbst geschaffenen Regeln wiederverwenden kann bzw. muss, wenn ein gleicher Fall vorliegt. Hat ein Gericht eine Sache entschieden (res iudicata), kann sich ein anderes Gericht nicht nur auf das rechtskräftig ergangene Urteil beziehen, sondern auch auf das vorangegangene „Richterecht“, das in diesem Fall geregelt hat, wie man vorgehen muss, um zu einer Entscheidung zu kommen. „Richterrecht“ operiert selbstreferentiell, es verweist auf sich selbst. Genau das ermöglicht eine Autonomie von Gerichten in der Frage, auf welche Art und Weise Rechtsprechung zustande kommen muss. Was Autonomie bedeutet, zeigt sich dann auch daran, wie unverständlich „juristische Argumentation“ für Laien sein kann. Die selbstreferentielle Art und Weise, mit der innerhalb des Rechts argumentiert wird, ist für Laien schwerlich nachvollziehbar. Auch im angelsächsischen Kreuzverhör zeigen sich Folgen des Entscheidungszwangs, der Autonomie ermöglichte. Es regelt zum Beispiel, dass Zeugen oder Sachverständige nur durch StaatsanwältInnen und StrafverteidigerInnen befragt werdem dürfen. Welche Gesichtspunkte bei der Argumentation ausgewählt werden dürfen, ist durch die Gerichte bestimmt. Solche Entscheidungsregeln sind die sogenannten Programme des Gerichtssystems. Zugleich garantiert die normative Unterscheidung zwischen Recht/Unrecht bei jedem ausgewählten Aspekt, dass der Ausgang des Verfahrens offenbleibt. Es gilt die Unschuldsvermutung bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Urteil rechtskräftig wird. Das heißt, der Code (die leitende Unterscheidung von Recht/Unrecht, die auf jedes Argument angewendet werden muss) und die Programme des Systems (Selbstbindung an den Entscheidungszwang mit der Freiheit, „Richterrecht“ zu schaffen und sich auf selbst geschaffene Regeln zu beziehen) geben jene Struktur vor, die im Gerichtssystem des Rechts einzuhalten ist und die letztlich eine finale Entscheidung ermöglicht. Die Selbstbindung ans Justizverweigerungsverbot ermöglicht letztlich auch eine Verfahrensgarantie, die in der Verfassung abgesichert wurde. Vollständiger Text auf Luhmaniac.de
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